KRANK VOR SORGE
Ich sehe was, was du nicht siehst ... und das ist – mein Ende. Wer unter Hypochondrie leidet, lebt in ständiger Angst vor unheilbaren Krankheiten, die gar nicht da sind. So wie dieser Mann
Sven lebt. Er hat alle Tumore der vergangenen Jahre überstanden. Den Krebs, der sich in dieser Zeit durch seine Knochen und jedes seiner Organe gefressen hat. Die Schlaganfälle, die ihn beinahe umgebracht hätten, die er jedoch nie hatte. Genauso wenig wie Krebs und alles andere, vor dem er Angst hatte. Und manchmal noch hat. Körperlich ist Sven* gesund, gesünder jedenfalls, als er befürchtet. Aber das konnte er nie glauben, weil seine Seele krankt. Denn Sven ist ein Hypochonder.
Es wird vermutet, dass rund ein Prozent der Deutschen betroffen ist, Männer wie Frauen gleichermaßen. Körperwahrnehmungen falsch eingeschätzt werden. Sven sitzt in einer Bar und schweigt. Er hat etwas entdeckt, das in seinem Whiskey schwimmt. Konzentriert versucht er mit einem Strohhalm, den Fremdkörper zu entfernen. Ohne Erfolg. Ob das bisschen Schmutz wohl schlimm für ihn ist? „Nee“, sagt Sven und schiebt das Glas weg. „Aber ist doch scheiße, wenn da Dreck drin ist.“
Manch Hypochonder entwickelt übertriebene Vorsichtsmaßnahmen, desinfiziert alles, was er in die Hände bekommt, geht aus Angst vor Hautkrebs nicht mehr in die Sonne, schläft nur auf der rechten Seite, um das Herz nicht zu zerquetschen. Bei Sven ist das nicht so, Sven achtet nur auf Symptome und hat seinen Körper genau im Blick. Vorigen Dezember hockt er in seiner Wohnung und misst seinen Blutdruck alle zwei Minuten, über Tage. Er legt Excel-Tabellen an, will wissen, wie sich Medikamente auswirken, die er eingenommen hat. „Wegen meiner Herzrhythmusstörungen, ich bin seit meiner Geburt herzkrank“, erzählt Sven. „Also wirklich!“, schiebt er hinterher. Er lächelt.
Und wie geht es ihm, gerade jetzt? „Könnte besser sein“, sagt er. „Aber es war auch schon viel schlechter.“ Irgendwo dazwischen liegt vermutlich die Wahrheit, mit der er eigentlich schon immer seine Probleme hat. Hypochondrie kann ihre Wurzeln in einer realen Krankheit haben, der eigenen oder der enger Angehöriger. Ebenso kann sie neuropsychologisch oder genetisch begründet sein. Oft hat die Veranlagung ihren Ursprung im Kindesalter, wenn etwa Eltern wie in einem Helikopter überm Nachwuchs kreisen. Zweimal sei Sven bereits operiert worden, das erste Mal im Alter von drei Jahren. Ein Eingriff, der normalerweise früher vorgenommen wird, bei Sven jedoch nicht möglich war. Zu klein war er und schwach. Bereits vor Svens erstem Atemzug waren seine Eltern vor allem eines: besorgt. „Mach langsam“, haben sie immer gesagt, „sei vorsichtig!“ Sven erinnert sich gut: „Man durfte dies nicht, durfte das nicht.“ Dabei hätte er gern in einem Fußballverein gespielt, wie seine Freunde auch.
Von einer Hypochondrie ist Sven damals noch weit entfernt, die Angst vor Krankheiten ist ihm allerdings nicht fremd. „Einmal hat ein Klassenkamerad mit einem Laserpointer herumgespielt. Da habe ich so viel Theater gemacht, bis mich meine Eltern in eine Klinik brachten.“ Im selben Alter, etwa mit elf Jahren, glaubt Sven, Knoten in seiner Brust zu ertasten. Beide Male ist seine Sorge unbegründet.
Die Angst vor Krankheiten breitet sich langsam aus in Svens Kopf wie Ahornsirup in einer Schüssel. Ausgelöst wird Hypochondrie letztlich durch sogenannte Trigger wie Stress. Dieser hält bereits vorhandene Symptome aufrecht, verstärkt sie oder verursacht sogar neue, die Betroffene dann fälschlich als krankhaft und gefährlich einschätzen. Diese negative Bewertung führt zu einem Angstgefühl, welches dann erneut in Stress mündet. „Wenn man in dieser Spirale steckt, kann man nicht mehr unterscheiden“, sagt Sven. Er ist jemand, der „man“ sagt, wenn er eigentlich sich selbst meint. „Man geht eben vom Schlimmsten aus“, sagt er. „Man kann einfach nicht anders.“
Hypochondrie wird zu den Zwangsstörungen gezählt, die sich bei Sven auch noch anders bemerkbar machen. Zweimal, dreimal, viermal muss er nachschauen, ob der Herd ausgeschaltet ist, bevor er das Haus verlässt. Und sind die Fenster geschlossen? Wirklich? Im Supermarkt greift er die Dinge, die hinten im Regal stehen. „Da befinden sich die Lebensmittel mit einem längeren Haltbarkeitsdatum“, sagt Sven. „Und die Produkte sind nicht durch so viele Hände gegangen. Das mag ich nämlich nicht.“
Es wird vermutet, dass rund ein Prozent der Deutschen betroffen ist, Männer wie Frauen gleichermaßen. Körperwahrnehmungen falsch eingeschätzt werden. Sven sitzt in einer Bar und schweigt. Er hat etwas entdeckt, das in seinem Whiskey schwimmt. Konzentriert versucht er mit einem Strohhalm, den Fremdkörper zu entfernen. Ohne Erfolg. Ob das bisschen Schmutz wohl schlimm für ihn ist? „Nee“, sagt Sven und schiebt das Glas weg. „Aber ist doch scheiße, wenn da Dreck drin ist.“
„Ich bin seit meiner Geburt herzkrank. Also wirklich!“ Er lächelt
Manch Hypochonder entwickelt übertriebene Vorsichtsmaßnahmen, desinfiziert alles, was er in die Hände bekommt, geht aus Angst vor Hautkrebs nicht mehr in die Sonne, schläft nur auf der rechten Seite, um das Herz nicht zu zerquetschen. Bei Sven ist das nicht so, Sven achtet nur auf Symptome und hat seinen Körper genau im Blick. Vorigen Dezember hockt er in seiner Wohnung und misst seinen Blutdruck alle zwei Minuten, über Tage. Er legt Excel-Tabellen an, will wissen, wie sich Medikamente auswirken, die er eingenommen hat. „Wegen meiner Herzrhythmusstörungen, ich bin seit meiner Geburt herzkrank“, erzählt Sven. „Also wirklich!“, schiebt er hinterher. Er lächelt.
Und wie geht es ihm, gerade jetzt? „Könnte besser sein“, sagt er. „Aber es war auch schon viel schlechter.“ Irgendwo dazwischen liegt vermutlich die Wahrheit, mit der er eigentlich schon immer seine Probleme hat. Hypochondrie kann ihre Wurzeln in einer realen Krankheit haben, der eigenen oder der enger Angehöriger. Ebenso kann sie neuropsychologisch oder genetisch begründet sein. Oft hat die Veranlagung ihren Ursprung im Kindesalter, wenn etwa Eltern wie in einem Helikopter überm Nachwuchs kreisen. Zweimal sei Sven bereits operiert worden, das erste Mal im Alter von drei Jahren. Ein Eingriff, der normalerweise früher vorgenommen wird, bei Sven jedoch nicht möglich war. Zu klein war er und schwach. Bereits vor Svens erstem Atemzug waren seine Eltern vor allem eines: besorgt. „Mach langsam“, haben sie immer gesagt, „sei vorsichtig!“ Sven erinnert sich gut: „Man durfte dies nicht, durfte das nicht.“ Dabei hätte er gern in einem Fußballverein gespielt, wie seine Freunde auch.
Von einer Hypochondrie ist Sven damals noch weit entfernt, die Angst vor Krankheiten ist ihm allerdings nicht fremd. „Einmal hat ein Klassenkamerad mit einem Laserpointer herumgespielt. Da habe ich so viel Theater gemacht, bis mich meine Eltern in eine Klinik brachten.“ Im selben Alter, etwa mit elf Jahren, glaubt Sven, Knoten in seiner Brust zu ertasten. Beide Male ist seine Sorge unbegründet.
Die Angst vor Krankheiten breitet sich langsam aus in Svens Kopf wie Ahornsirup in einer Schüssel. Ausgelöst wird Hypochondrie letztlich durch sogenannte Trigger wie Stress. Dieser hält bereits vorhandene Symptome aufrecht, verstärkt sie oder verursacht sogar neue, die Betroffene dann fälschlich als krankhaft und gefährlich einschätzen. Diese negative Bewertung führt zu einem Angstgefühl, welches dann erneut in Stress mündet. „Wenn man in dieser Spirale steckt, kann man nicht mehr unterscheiden“, sagt Sven. Er ist jemand, der „man“ sagt, wenn er eigentlich sich selbst meint. „Man geht eben vom Schlimmsten aus“, sagt er. „Man kann einfach nicht anders.“
Hypochondrie wird zu den Zwangsstörungen gezählt, die sich bei Sven auch noch anders bemerkbar machen. Zweimal, dreimal, viermal muss er nachschauen, ob der Herd ausgeschaltet ist, bevor er das Haus verlässt. Und sind die Fenster geschlossen? Wirklich? Im Supermarkt greift er die Dinge, die hinten im Regal stehen. „Da befinden sich die Lebensmittel mit einem längeren Haltbarkeitsdatum“, sagt Sven. „Und die Produkte sind nicht durch so viele Hände gegangen. Das mag ich nämlich nicht.“
Es gibt ein Bild von Sven, auf dem sein Kopf zu groß scheint für seine Schultern. Wie eine Fotomontage, die zeigt, dass die Gedanken einen Körper beherrschen können. In der schlimmsten Zeit mit Mitte 20 gibt es Tage, an denen Sven keine Minute an etwas anderes denken kann als an eine tödliche Krankheit. Das Elend brodelt in ihm. Und er nimmt es mit in seinen Schlaf. Der nächste Morgen beginnt oft damit, dass Sven seine Körperfunktionen überprüft, wieder und wieder. Er liest Fachliteratur, tauscht sich in Internetforen aus, recherchiert seine Symptome. Laut Google hat er in 90 Prozent der Fälle Krebs. „Oder auch Amyotrophe Lateralsklerose“, sagt Sven, der medizinische Begriffe so sicher ausspricht wie ein Apotheker. Die vermeintlichen Symptome für ALS, Schmerzen in den Beinen und Muskelzucken, bekommt Sven zwei Tage nachdem er eine Reportage darüber im Fernsehen gesehen hat. Sein Geist ist mächtig, interpretiert kribbelnde Arme als Nervenkrankheit, Lichtblitze im Auge als Netzhautschäden – die größte Angst hat er vor Augenkrankheiten.
Svens Handeln, die Chats, das Googeln, das alles wird bestimmt von dem zwanghaften Wunsch, sich die Bestätigung zu holen, gesund zu sein. Am Ende dieser Kettenreaktion befindet sich immer ein Wartezimmer. „Teilweise war ich mehrmals am Tag bei einem Arzt“, erzählt Sven. „Oder in der Notaufnahme.“ Wenn Menschen mit dieser Krankheit eine Praxis betreten, dann bringen sie nicht nur Symptome mit, sie haben auch die Diagnose dabei. Die Ärzte müssten diese eigentlich nur noch bestätigen. Die Ergebnisse von Svens Untersuchungen sind aber ein ums andere Mal dieselben: nichts. Ob er verstehe, dass er abgesehen von seiner Herzkrankheit gesund sei, will sein Hausarzt einmal von ihm wissen. „Ja, schon“, sagt Sven und ist tatsächlich erleichtert. Aber das Licht am Ende des Tunnels wird immer wieder zu einem entgegenkommenden Zug. Doch eine Augenkrankheit? Einmal, als seine Freundin mit ihm ins Kino will, rollt Sven den ganzen Tag mit den Augen, blinzelt, sucht nach blinden Flecken – und so finden sich die beiden nicht mit Popcorn in einem Pärchensessel wieder, sondern mit schlechter Laune in einer Augenklinik. Allein dort war Sven fast 20 Mal. „Aber deshalb ist unsere Beziehung nicht gescheitert.“ Die Freundin ist gegangen, die Augenflecken sind geblieben. „Die gibt’s wirklich“, sagt Sven. „Die sind nicht eingebildet. Das kann keiner erklären.“ Am wenigsten er selbst.
Svens aktuelle Freundin und sein bester Kumpel sind die Einzigen, denen er sich anvertraut. Zu seinen Eltern ist der Kontakt nahe der Nulllinie. Im Job merkt niemand etwas, weil Sven zurzeit arbeitslos ist. Er schottet sich ab, geht in der schlimmsten Phase kaum aus dem Haus – und wenn, dann meist zur Sprechstunde. „Die Ärzte dürften es nach meinem 15. Besuch geahnt haben“, sagt Sven.
Es ist aber kein Arzt, der ihm sagt, dass er ein Hypochonder ist. Auch das macht Google. Sven handelt, findet einen Platz in einer verhaltenstherapeutischen Ambulanz. Ihm werden seine Verhaltens- muster aufgezeigt, er lernt, seine Gedanken besser zu kontrollieren. Entspannungsübungen helfen ihm dabei. „Man lernt, mit der Krankheit umzugehen und die Sucht, Symptome zu googeln, zu unterdrücken“, sagt Sven. Er komme nach und nach davon los, etwas zu suchen, das es nicht gibt: Sicherheit.
Die Kellnerin bringt einen neuen Whiskey. Ohne Dreck. Sven nimmt das Glas, schaut hinein. „Ich bin jetzt 31“, sagt er, während er das Glas wieder abstellt, ohne davon getrunken zu haben. „Die Einschläge kommen näher. In diesem Alter nimmt man mehr wahr, dass Leute krank werden. Und sterben. Dass man einfach schon viel rumhat vom Leben.“ Ein Bekannter von Sven sei letztes Jahr mit paarundvierzig gestürzt. Tot. „Blöd aufgekommen. Zack! Kann einem immer passieren“, sagt Sven und nippt am Glas. „Man kann nie wissen.“
* Name von der Redaktion geändert
Svens Handeln, die Chats, das Googeln, das alles wird bestimmt von dem zwanghaften Wunsch, sich die Bestätigung zu holen, gesund zu sein. Am Ende dieser Kettenreaktion befindet sich immer ein Wartezimmer. „Teilweise war ich mehrmals am Tag bei einem Arzt“, erzählt Sven. „Oder in der Notaufnahme.“ Wenn Menschen mit dieser Krankheit eine Praxis betreten, dann bringen sie nicht nur Symptome mit, sie haben auch die Diagnose dabei. Die Ärzte müssten diese eigentlich nur noch bestätigen. Die Ergebnisse von Svens Untersuchungen sind aber ein ums andere Mal dieselben: nichts. Ob er verstehe, dass er abgesehen von seiner Herzkrankheit gesund sei, will sein Hausarzt einmal von ihm wissen. „Ja, schon“, sagt Sven und ist tatsächlich erleichtert. Aber das Licht am Ende des Tunnels wird immer wieder zu einem entgegenkommenden Zug. Doch eine Augenkrankheit? Einmal, als seine Freundin mit ihm ins Kino will, rollt Sven den ganzen Tag mit den Augen, blinzelt, sucht nach blinden Flecken – und so finden sich die beiden nicht mit Popcorn in einem Pärchensessel wieder, sondern mit schlechter Laune in einer Augenklinik. Allein dort war Sven fast 20 Mal. „Aber deshalb ist unsere Beziehung nicht gescheitert.“ Die Freundin ist gegangen, die Augenflecken sind geblieben. „Die gibt’s wirklich“, sagt Sven. „Die sind nicht eingebildet. Das kann keiner erklären.“ Am wenigsten er selbst.
Svens aktuelle Freundin und sein bester Kumpel sind die Einzigen, denen er sich anvertraut. Zu seinen Eltern ist der Kontakt nahe der Nulllinie. Im Job merkt niemand etwas, weil Sven zurzeit arbeitslos ist. Er schottet sich ab, geht in der schlimmsten Phase kaum aus dem Haus – und wenn, dann meist zur Sprechstunde. „Die Ärzte dürften es nach meinem 15. Besuch geahnt haben“, sagt Sven.
Es ist aber kein Arzt, der ihm sagt, dass er ein Hypochonder ist. Auch das macht Google. Sven handelt, findet einen Platz in einer verhaltenstherapeutischen Ambulanz. Ihm werden seine Verhaltens- muster aufgezeigt, er lernt, seine Gedanken besser zu kontrollieren. Entspannungsübungen helfen ihm dabei. „Man lernt, mit der Krankheit umzugehen und die Sucht, Symptome zu googeln, zu unterdrücken“, sagt Sven. Er komme nach und nach davon los, etwas zu suchen, das es nicht gibt: Sicherheit.
Die Kellnerin bringt einen neuen Whiskey. Ohne Dreck. Sven nimmt das Glas, schaut hinein. „Ich bin jetzt 31“, sagt er, während er das Glas wieder abstellt, ohne davon getrunken zu haben. „Die Einschläge kommen näher. In diesem Alter nimmt man mehr wahr, dass Leute krank werden. Und sterben. Dass man einfach schon viel rumhat vom Leben.“ Ein Bekannter von Sven sei letztes Jahr mit paarundvierzig gestürzt. Tot. „Blöd aufgekommen. Zack! Kann einem immer passieren“, sagt Sven und nippt am Glas. „Man kann nie wissen.“
* Name von der Redaktion geändert